«Das gibt’s ja nicht!» Sein Chef war doch ziemlich überrascht, als Daniel Urwyler ihm 2017 eröffnete, dass er seine Stelle als COO des IT-Dienstleisters adesso Schweiz niederlegen und eine Ausbildung als Lokführer beginnen würde. Erstaunen, das war die häufigste Reaktion auf seinen Entschluss, erinnert sich der Berner. Auf offene Ablehnung sei er nicht gestossen, nur mal auf ein leichtes Naserümpfen, dass er jetzt einen «Büezer»-Job anfangen wolle. 

Denn genau das war er zuvor nicht: Kurz nach dem Studium machte sich der auf Softwareentwicklung spezialisierte Elektroingenieur selbstständig und war 25 Jahre später schliesslich Mitinhaber eines Informatik-Unternehmens mit 120 Mitarbeitenden. Nach dessen Verkauf an die adesso Schweiz war er dann deren COO. «Und ich habe meinen Job immer geliebt», sagt Daniel Urwyler. «Mir hat vor allem der Kontakt mit den Menschen, mit den Kunden gefallen.» Aber genau das hat er doch im Führerstand der Lok nicht? Wieso dann dieser radikale Schritt? Er lacht. «Das habe ich ja 30 Jahre lang gehabt», antwortet der einstige Manager. «Fünf Leute vor dem Schreibtisch, Telefone, keine ruhige Minute und bis spät abends E-Mails beantworten.» 

Ein Geschenk mit Folgen

Mit dem 50. Geburtstag kam das Schlüsselerlebnis: Seine Frau hatte ihm als Überraschung eine Führerstandsfahrt geschenkt. «Da fuhr ich also ganz vorn im Intercity von Bern nach Brig und zurück. Als mich Franziska am Bahnhof abholte, sagte sie, ich hätte so selig gelächelt.» Kein Wunder, denn schon von klein auf war Daniel Urwyler begeistert von Zügen. So fällte er den Entschluss, in ein neues Leben zu starten. 

«Es war ein Bauch- und ein Herzensentscheid», sagt er. «Andererseits bin ich ein sehr analytischer Mensch und wollte den Schritt gut vorbereiten.» Auf seine Anfrage für einen Ausbildungsplatz erhielt er bei SBB und BLS aufgrund seines Alters negativen Bescheid. Bevor er schliesslich 50’000 Franken für die Ausbildung bei einem privaten Eisenbahnverkehrsunternehmen investierte, unterzog er sich auf eigene Kosten den vorgeschriebenen psychologischen und medizinischen Tests. 

"Es war ein Bauch- und ein Herzensentscheid. Andererseits bin ich ein sehr analytischer Mensch und wollte den Schritt gut vorbereiten."

Wie war das mit Zweifeln? Kam der Kopf nicht manchmal dem Bauch in die Quere? Es habe schon Mut gebraucht, sagt Daniel Urwyler. «Die Ausbildung war streng. Aber ich habe nie gedacht, dass ich es nicht schaffe – nur, dass es vielleicht ein wenig länger geht.» Dann bekam er gleich bei seinem ersten Prüfungsversuch das Diplom als Lokführer der höchsten Kategorie B «zum Ausführen aller Rangierbewegungen und zum Führen aller Züge». 

Eins sein mit Natur und Maschine

Und dann ging’s los: Seit Herbst 2018 arbeitet Daniel Urwyler als Cargo-Lokführer, aktuell in Teilzeitanstellung im Depot Spiez der BLS. Meist übernimmt er dort einen Güterzug, der von Italien nach Deutschland oder retour fährt. Lok ankuppeln, den Zug ablaufen, die Nummern der Wagen prüfen, Bremsproben, Frachtzettel überprüfen: All das ist Routine geworden für den heute 58-Jährigen. 

Oft ist er nachts unterwegs. «Das war am Anfang ein bisschen unheimlich», erzählt der Lokführer. «Man sieht nur Schienen vor sich und die Signale, ist schnell unterwegs und hat 1600 bis 1800 Tonnen Last hinter sich.» Hart sei es gewesen, auch körperlich. Aber man gewöhne sich dran – und lerne «die Magie der Nacht» zu schätzen. «Wenn ich bei Hohtenn auf der Lötschbergstrecke von hoch oben hinab auf die Lichter des Wallis blicke: wunderschön. Oder es steht um 4 Uhr morgens der Mond am Himmel über dem Tal bei Iselle – und ich denke: Ich bin der einzige Mensch, der das jetzt sieht.» 

Zu sehr romantisieren dürfe man aber nicht. «Lokführer ist ein anspruchsvoller, anstrengender Beruf», betont Daniel Urwyler. Ein Job, für den im Übrigen auch viel Bauchgefühl nötig sei. «Steigungen, Kurven, Schnee und Regen sind beim Fahren und Bremsen eine Herausforderung, da muss man ein Gespür entwickeln.» Im Güterverkehr brauche es zudem Gelassenheit und Flexibilität. «Dienst nach Vorschrift ist nicht drin. Wenn der Zug aus Italien in Domodossola eine Stunde später kommt, muss man ihn trotzdem fahren – und kann nicht Feierabend machen.»

Hat Daniel Urwyler weitere Entscheide in seinem Leben nach dem Bauch getroffen? «Eigentlich alle wichtigen», antwortet er ohne zu zögern. Seine Frau beispielsweise habe er nur einmal kurz gesehen und sie daraufhin einfach angerufen, um sie näher kennen zu lernen. «Sie war dann auch ziemlich überrascht – aber mittlerweile sind wir seit 20 Jahren glücklich zusammen.»

Würde er anderen Menschen raten, mehr auf ihre Intuition zu hören? «Ich will nicht missionieren», sagt er. «Mein Bauch ist meiner und dein Bauch ist deiner. Ich glaube, viele träumen von einem Neubeginn, aber nicht alle finden heraus, was sie wirklich wollen. Und wenn doch, dann muss man es auch noch wagen.»