Lucia Miggiano, wie definieren Sie Glück?

Für mich ist es die Summe aus Lebenszufriedenheit, Wohlergehen, Resilienz und Autonomie. Glück ist wie ein Massanzug, der mir genau passt und in dem ich mich wohl fühle. Den ich mir aber auch selbst schneidern muss. Dazu kommt: Was vor zehn Jahren gepasst hat, tut es heute vielleicht nicht mehr, dann muss ich mir einen neuen Anzug nähen.

Das hört sich nach Arbeit an. 

Glück ist keine Bespassung. Damit es nachhaltig ist und mich trägt, muss ich mich mit meiner Persönlichkeit auseinandersetzen – am besten schon im Jugendalter. Deswegen bin ich dafür, das Schulfach Glück in der Schweiz offiziell auf den Lehrplan zu nehmen. Ganz einfach, weil es ein gesellschaftsrelevantes Thema ist: Wer glücklich ist, wird seltener krank, kann sich nach Krisen wieder aufrichten und lebt länger. 

Als Lehrerin bringe ich aber schon heute Elemente meiner Ausbildung zur Glückstrainerin im Unterricht ein. Die Lernenden beschäftigen sich mit den Fragen: Wer bin ich, was brauche ich, was kann ich, was will ich? Denn wenn ich das nicht weiss – wie soll ich mich beispielsweise auf die Berufswahl vorbereiten? 

Diese Fragen bleiben auch im Erwachsenenalter wichtig, oder?

Ja. Hier Antworten zu erarbeiten ist beim Glückscoaching zentral. Dabei geht es nicht darum, Selbst-Optimierung zu betreiben oder egozentrisch nur um sich selbst zu kreisen. Im Gegenteil: Sich gemeinsam mit anderen für ein Ziel einzusetzen, das trägt auch zum Glück bei. Weil es sinnhaft ist. Die Jugendbewegung für den Klimaschutz macht uns vor, wie das geht.

Sicher sind manche Leute bei ähnlichen Lebensumständen glücklicher als andere. Ist das auch genetisch bedingt? 

Bei Zwillingsstudien der amerikanischen Psychologin Sonja Lyubomirsky kam heraus, dass tatsächlich unsere persönliche Zufriedenheit zu etwa 50 Prozent genetisch bedingt ist und zu 10 Prozent von äusseren Umständen. Die restlichen 40 Prozent hängen von uns ab. 

Wie machen wir das Beste aus diesen 40 Prozent?

Der wichtigste Faktor für das Glück sind Beziehungen. Das ist in allen Kulturen der Welt so. Gehen wir also liebevoll und wertschätzend mit Familie, Partnerin und Freunden um. Pflegen wir unsere Kontakte. Gerade die Corona-Krise hat gezeigt, wie kreativ wir dabei sein können. Das sollten wir beibehalten. 

«Entwickeln wir uns doch lieber vom Fehlersucher zur Schatzfinderin.»

Was kann ich ganz direkt für mich tun?

Es gibt viele kleine Rituale, die zum Glück beitragen. Dankbar zu sein ist elementar. Und auch an einem noch so schwierigen Tag finden sich gute Momente. Worüber haben Sie gelacht? Wann haben Sie sich entspannt gefühlt? Wer das abends aufschreibt, schläft schon positiv gestimmt ein. Mein Rat: Entwickeln Sie sich vom Fehlerfinder zur Schatzsucherin, vom Opfer zum Gestalter. Das ist auch ein Grundzug der Positiven Psychologie, die sich auf die menschlichen Ressourcen konzentriert und nicht auf die Defizite.  

Welche weiteren Glücksmomente kann ich im Alltag integrieren?

Das Glück beginnt im Kopf – aber nicht nur da. Ich kann auch so etwas dafür tun, dass mein Gehirn Glücks- und Belohnungshormone, sogenannte Neurotransmitter, ausschüttet: Musik hören, singen, erfolgreich eine Aufgabe beenden. Gut für mich selbst sorgen: ein Bad nehmen, die Hände eincremen, einen schönen Lippenstift auftragen. Achtsam sein: an die frische Luft gehen, die Natur erleben, das frische Grün der Bäume wahrnehmen, die Sonnenstrahlen. Auch wenn ich grosszügig bin, jemanden umarme oder Komplimente mache, schüttet mein Hirn wohltuende «Kuschelhormone» aus. 

Und wenn die Laune mal so richtig im Keller ist?

Dann gehen Sie sie nicht im Keller zwischen den Gurkengläsern und den Skistiefeln suchen. Besser: Verschwinden Sie im Badezimmer und ziehen Sie die Mundwinkel ganz kräftig nach oben. Grinsen Sie so sehr, dass die Wangen spannen. Ja, da kommt man sich blöd vor. Aber warten Sie 60 Sekunden ab. So lange dauert es nämlich, bis der Parasympathikus unseres Nervensystems denkt, aha, da ist jemand aber happy und anfängt, Glückshormone auszuschütten. 

Lucia Miggiano arbeitet als Lehrerin auf der Sekundarstufe II, bildet Lehrpersonen in der Glücksvermittlung aus und bietet über die Plattform remaking.ch Coaching an. Grundlage ist das am Heidelberger Fritz-Schubert-Institut entwickelte «Schulfach Glück».

Mehr Glück im Alltag: So geht’s

  1. Sich nicht vergleichen

    Sich «nach oben» zu vergleichen, mit Menschen, die erfolgreicher scheinen, macht unzufrieden. Machen Sie lieber einen Vergleich «zu schlechteren Zeiten »: Wie viel selbstbewusster sind Sie heute als früher, was haben Sie erreicht?  

  2. Angefangenes beenden

    Tagesaufgaben notieren, erledigen – und dann einen grossen Haken dahinter machen: Gibt es etwas Befriedigenderes? Dabei schüttet Ihr Hirn das Belohnungshormon Dopamin aus. Und Sie haben Ihr Zeitmanagement im Griff. 

  3. Miese Laune ignorieren

    Grübeln Sie nicht lange, warum Sie heute nicht gut drauf sind. Denn die Energie fliesst dorthin, worauf sich Ihre Gedanken richten. Drehen Sie Ihr Lieblingslied laut auf und tanzen Sie durch die Küche: Schon geht’s besser.

  4. Gedanken ziehen lassen

    Die positiven Auswirkungen von Meditation auf Glück und Gelassenheit lassen sich im Gehirn nachweisen. Stunden im Schneidersitz müssen nicht sein: Probieren Sie mit einer Kurzanleitung aus dem Internet eine Übung aus. 

  5. Jammerstopp einlegen

    Mal Dampf ablassen? Okay. Aber immer die gleiche Frustsuppe umzurühren, tut niemandem gut. Schauen Sie in den Spiegel und beklagen Sie laut Ihr Schicksal. Wie lange ertragen Sie das? Eben. 

  6. Gut dastehen

    Raus aus der «Display»-Pose mit gebeugten Schultern und dem Blick aufs Handy. Kopf hoch, Rücken gerade, die Hände in die Hüften stemmen, tief einatmen und lächeln: Da geht es einem rasch ganz anders. 

Das macht KPT-Mitarbeitende glücklich

Ist es der Lauf um den See, die Morgenmeditation oder das selbstgebackene Sauerteigbrot? Wir haben uns intern umgehört, was bei den Kolleginnen und Kollegen die Laune hebt. 

Lassen Sie sich auf Facebook inspirieren

In Videos verraten KPT-Mitarbeitende ihre persönlichen Glücksrituale und -tipps. Vielleicht können Sie von der einen oder anderen Idee profitieren?

Glücksbringer

Vom Kleeblatt bis zur Winke-Katze: Glücksbringer und -symbole sind seit Jahrtausenden in allen Kulturen der Welt verbreitet. «Das hat mit Aberglauben nichts zu tun», sagt Lucia Miggiano. «Es sind Achtsamkeitsträger. Wenn ich meinen Glücksstein in der Hand habe, mein Amulett berühre oder mein Glücksschwein drücke, tue ich mir etwas Gutes und halte inne. Ich denke an das Glück und rege damit schon die Ausschüttung der entsprechenden Hormone an.» Vielleicht haben Sie ja Lust, sich einen schönen Glücksbringer zu basteln?