Jürg Bolliger ist Erwachsenenbildner, Coach und Supervisor. Sein Schwerpunkt ist die Transaktionsanalyse. Seine Hochsensitivität hat er schätzen gelernt – seine Erfahrungen gibt er anderen Betroffenen gerne weiter.

Jürg Bolliger, Erwachsenenbildner und Coach aus Biel, hat ein Gespür für die Feinheiten des Lebens, das über das Gewöhnliche hinausgeht. «Aber mir war nicht bewusst, dass ich hochsensitiv sein könnte», sagt der 56-jährige Familienvater. Er bevorzugt den Begriff «hochsensitiv», der neutraler klingt als «hochsensibel». Vor einigen Jahren hat er sich mit dem Thema auseinandergesetzt – und im Nachhinein vieles besser verstanden.

Eine geschärfte Wahrnehmung

«Als Kind hatte ich oft Kopfweh, vor allem abends, wenn viel los war. Meine Eltern waren ratlos», erzählt er. «So sass ich viele Stunden in Arztpraxen, bekam die Hirnströme gemessen oder Traubenzucker verordnet – aber man fand keine Lösung.» Heute erklärt er sich die Kopfschmerzen als Reaktion auf die Reizüberflutung.  Rückblickend auf seine beruflichen Anfänge als Banklehrling erinnert er sich: «Als ich am Schalter arbeitete – wo früher viel Betrieb herrschte – hörte ich alles, was links und rechts von mir passierte. Egal, wie sehr ich mich auf meine Kunden konzentrierte.» So war er dann oft Auskunftsperson für alle anderen – aber am Ende des Arbeitstages sehr erschöpft. Umso mehr schätzt er es heute, dass er sich im Alltag Arbeit und Pausen zwischen Homeoffice, Präsenzseminaren und Coachings relativ frei einteilen kann.

Die Ohren: immer auf Empfang

Auch heute macht sich Jürg Bolligers Hochsensitivität vor allem am Gehör bemerkbar. «An einem Familienfest zum Beispiel wird der Lärm für mich mit der Zeit zu einem zähen Brei, der nach und nach in mir aufsteigt und Beklemmungen auslöst, bis nichts mehr geht.» In solchen Momenten hat er gelernt, sich zurückzuziehen. 

Wie erklärt er Hochsensitivität? 

«Es gibt Menschen, die äussere Reize und Sinneseindrücke stärker wahrnehmen und intensiver verarbeiten.» Die Bandbreite sei gross. Studien gehen davon aus, dass etwa 15 bis 20 Prozent der Bevölkerung hochsensitiv sind. Manche schätzen ihre Veranlagung, andere empfinden die gesteigerte Wahrnehmung als unangenehm.

«Als Coach ist es mir wichtig, den Betroffenen zu vermitteln, dass mit ihnen alles in Ordnung ist und sie keine ‹Sensibelchen› sind.»

«Als Coach ist es mir wichtig, den Betroffenen zu vermitteln, dass mit ihnen alles in Ordnung ist und sie keine ‹Sensibelchen› sind.» Vor allem aber gehe es darum, Strategien zu entwickeln, um mit der Hochsensitivität im Alltag besser umgehen zu können. 

Entspannung und Zeitpuffer einplanen

«Selbstreflexion ist entscheidend», sagt er und empfiehlt, auf Körpersignale – Verspannungen, Kopfschmerzen – zu achten, die auf eine Überforderung hinweisen. Wenn Situationen mit vielen Reizen und Sinneseindrücken bevorstehen, sollte man diese frühzeitig einplanen und möglichst auch Zeitpuffer drumherum: Nach einem anstrengenden Arbeitstermin mit vielen Menschen also nicht auch abends noch Verabredungen eingehen. Sondern vielleicht einmal aufs Nichtstun setzen.

Achtsamkeit statt Reizüberflutung

Wichtig sei es, zum Kraft tanken persönliche Energiequellen zu kennen und auszuschöpfen: wie Spaziergänge, Atemtechniken oder das Hören der Lieblingsmusik. «Für mich ist zum Beispiel die 500 Meter von meiner Wohnung entfernte Taubenlochschlucht ein Kraftort. Ansonsten liebe ich es, allein spontan mit dem Motorrad durch die Landschaft zu fahren – oder auch ganz einfach den Vögeln in der Natur zu lauschen.» 

Stress abbauen mit Notfallstrategien

Darüber hinaus kennt Jürg Bolliger einige «Notfallstrategien» für Situationen der Reizüberforderung. Zum einen das Thymusklopfen: ein sanftes, regelmässiges Klopfen auf die Mitte des Brustbeins während rund 30 Sekunden, bis der Stressdruck nachlässt. Auch gut für die Psyche: sich innerlich zurückziehen und an eine angenehme Situation denken. 

Und zum Schluss ein besonders origineller Tipp: «Ein paar Pfefferkörner in der Hosentasche können helfen, Stress abzubauen.» Wie das? «Bei Anspannungen einfach draufbeissen! So wird die Aufmerksamkeit des Körpers auf eine andere Empfindung gelenkt und das negative Gefühl kann zumindest kurz ausgeblendet werden.»

Fakten rund um Hochsensibilität

Sinne ganz besonders wahrnehmen

Hochsensitiv zu sein: Für Jürg Bolliger ist das eine Gabe – und keinesfalls eine vom Arzt diagnostizierte, irgendwie negative Diagnose. Ähnlich verhält es sich mit der Synästhesie, bei der Sinnesreize miteinander verknüpft werden: Zum Beispiel werden dabei Zahlen als Farben wahrgenommen.

Wie geht Sängerin Lea Lu mit ihrer Synästhesie um?

Nur etwa 4 % der Bevölkerung sind mit Synästhesie begabt, das schätzt die Forschung. Die Zürcher Singer-Songwriterin Lea Lu ist Synästhetikerin: Sie nimmt Töne als Farben wahr. Lesen Sie ihre spannende Geschichte – und tauchen Sie in ihre musikalische Welt ein.

Newsletter kpt focus

Erhalten Sie mit kpt focus regelmässig Tipps für mehr Wohlbefinden.

kpt focus jetzt abonnieren

Abonnieren Sie jetzt unseren Newsletter kpt focus und profitieren Sie einmal pro Quartal von Informationen und Tipps zu sorgsam ausgewählten Themen rund um das Wohlbefinden.