Internationale Vergleiche attestieren der Schweizer Bevölkerung regelmässig eine überdurchschnittlich gute Work-Life-Balance. Meist stehen wir mit den skandinavischen Ländern weit oben in der Rangliste. Das gilt auch jetzt in der Pandemie, in der sich die Arbeitssituation für viele verändert hat.

Aber gerade die Pandemie zeigt: Work-Life-Balance ist eine sehr individuelle Herausforderung, die sich in Statistiken schlecht abbilden lässt. Nehmen wir das Homeoffice als Beispiel. Mehrere Untersuchungen wie zum Beispiel eine Befragung des Technologieunternehmens Avaya zeigen, dass ein stattlicher Anteil der Arbeitnehmenden gerne öfter zuhause arbeitet. Und doch kämpfen viele auch mit Herausforderungen: schwierige Abgrenzung, weniger Sozialkontakte, Produktivitätsverlust. Wir haben mit der Psychologischen Beraterin Marusca Klein über das Gleichgewicht der Lebensbereite und aktuelle Veränderungen gesprochen.

Marusca Klein, reden wir zuerst über den Begriff: Was genau ist eigentlich diese ominöse Work-Life-Balance?

Wir alle haben verschiedene Tätigkeiten und Aufgaben, die unsere Ressourcen beanspruchen. Für ein glückliches Leben sollten diese miteinander im Einklang stehen. Aber ehrlich gesagt: Den Begriff «Work-Life-Balance» finde ich angestaubt.

Warum?

Er ist mit der althergebrachten Sichtweise verknüpft, dass es hier die anstrengende Arbeit gibt und dort die Freizeit, die in erster Linie dazu dient, sich von der Arbeit zu erholen.

Manche reden von der Life Domains Balance – dem Gleichgewicht der verschiedenen Lebensbereiche.

Das ist besser. Ich bevorzuge das Bild des Würfels: Die Erwerbsarbeit ist eine von mehreren Würfelseiten – und eben nicht die Hälfte des Lebens. Andere Seiten sind zum Beispiel die Familie, der Verein, Sport oder freiwilliges Engagement. Jede Seite ist wichtig und der Würfel sollte eine gleichmässige Form haben, damit das Spiel Freude bereitet.

Wann hat der Würfel eine gleichmässige Form?

Wenn Sein und Tun übereinstimmen. Passt das, was ich mache zu dem, was ich bin? Und zwar ganzheitlich gesehen: Alle Lebensbereiche, alle Tätigkeiten sind Teil meines Lebens und sollen zu meiner Zufriedenheit beitragen. Dazu gehört zum Beispiel, dass ich in meiner Arbeit einen Sinn sehe.

Aber wir können nicht alle die Welt retten.

So tief muss der Sinn gar nicht gehen. Es ist auch völlig in Ordnung, einen Job primär des Geldes wegen zu machen – solange man sich dessen bewusst ist und eine positive Sicht darauf hat: «Ich mache diese Arbeit gerne, weil sie mir ein Einkommen verschafft.»

Die Pandemie hat einiges verändert. Auch die Work-Life-Balance?

In vielen Lebensbereichen wurden die Sozialkontakte weniger, was problematisch ist. Wir brauchen für unsere psychische Gesundheit regelmässigen Kontakt zu anderen Menschen. Vor allem bei Bürojobs hat die Pandemie bestehende Trends radikal beschleunigt: Arbeit findet zunehmend unabhängig von Ort und Zeit statt. Immer mehr Menschen arbeiten im Homeoffice und das oft ausserhalb der Bürozeiten.

Eine freie Arbeitseinteilung macht das Abgrenzen schwieriger. Sind Homeoffice und flexible Arbeitszeiten Fluch oder Segen?

Das sind einfach neue Arbeitsrealitäten. Wir müssen uns daran gewöhnen und positive Strategien entwickeln, wie wir damit umgehen. Zum Beispiel die Zeit sinnvoll einteilen.

Auch Vorgesetzte haben da eine Verantwortung: Sie sollten mit gutem Beispiel vorangehen, ihren Mitarbeitenden Optionen bieten, Vertrauen schenken und keine ständige Erreichbarkeit erwarten.

Wir werden künftig noch individuellere Arbeitsmodelle sehen. Immer mehr Leute arbeiten Teilzeit. Manche kombinieren mehrere Anstellungen, arbeiten zur Hälfte selbstständig, oder ergänzen mit einer Teilzeitstelle ihre Sportkarriere. Auch dafür gibt es einen Begriff: Work-Life-Blending. «Blending» auf Deutsch «vermischen» meint, dass die Arbeit und andere Lebensbereiche stärker ineinandergreifen.

Was halten Sie als Psychologische Beraterin davon?

Die Menschen gestalten sich ihr Leben nach ihren Bedürfnissen und haben dazu heute mehr Möglichkeiten. Das ist positiv. Allerdings braucht es Disziplin. Die Gefahr, dass ein Lebensbereich problematisch auf einen anderen Lebensbereich übergreift, ist grösser, wenn man mehr Rollen und keine fixen Arbeitszeiten mehr hat.

Nicht alle Menschen können Arbeitszeit und Arbeitsort flexibel wählen. Gibt es generelle Empfehlungen, was man tun kann, damit der vorgenannte Würfel gleichmässig rollt?

Etwas vom Wichtigsten ist es, präsent zu sein. Wenn ich arbeite, dann bin ich gedanklich bei der Arbeit. Ich nehme wahr, was ich mache. Dasselbe gilt für andere Bereiche. Spiele ich mit den Kindern, dann gebe ich mich dem Spiel hin und formuliere nicht in Gedanken das nächste geschäftliche E-Mail.

Und wenn tatsächlich der Zeitaufwand das Problem ist? Wenn ich zum Beispiel Überstunden mache und meine Chefin gibt mir immer noch mehr Arbeit.

Auch diese Gefahr hat die Pandemie verstärkt. Manche hatten plötzlich kaum noch Arbeit, andere doppelt so viel zu tun. Arbeiten alle im Homeoffice, ist es für Vorgesetzte und Arbeitskollegen zudem schwer zu beurteilen, wer noch Ressourcen hat und wer schon am Anschlag ist.

Hier braucht es gute Kommunikation. Überhaupt sollte man immer für sich einstehen, Prioritäten, Grenzen und realistische Ziele setzen. Das Gespräch suchen und Stopp sagen, um sich vor Überforderung zu schützen. Das braucht manchmal Mut, trainiert aber das Selbstvertrauen und macht einen stärker und zufriedener.

Überhaupt sollte man immer für sich einstehen, Prioritäten, Grenzen und realistische Ziele setzen. Das Gespräch suchen und Stopp sagen, um sich vor Überforderung zu schützen. 

Wie erkennt man rechtzeitig eine Überlastung?

Psychische und körperliche Symptome wie Stimmungsschwankungen, Dünnhäutigkeit oder schlechter Schlaf sind späte Warnsignale. Sie zeigen, dass wir ein Ungleichgewicht bereits zu lange ignoriert haben. Deshalb ist Achtsamkeit so wichtig. Ob der Würfel noch gleichmässig rollt, muss man aktiv und regelmässig hinterfragen: Wie geht es mir? Bin ich in meinen Tätigkeiten präsent und zufrieden, oder doch eher angespannt?

Wir drücken unsere Gefühle oft zu lange weg, statt sie wahrzunehmen und danach zu handeln. Aber zum Glück ist Achtsamkeit lernbar, und zwar in jedem Alter. 

Dann schauen wir doch gleich achtsam nach vorne. Wir sprachen über die Pandemie. Nun gehen wir auf den zweiten Pandemiewinter zu. Was sollten wir beachten?

Fehlendes Sonnenlicht und nasskaltes Wetter sind immer schwierig für die Psyche. Die fehlenden Sozialkontakte wegen Homeoffice und reduzierten Freizeitaktivitäten verstärken das Problem. Im Sommer gehen wir öfter raus und treffen dort zum Beispiel auf die Nachbarin. Der Winter kann eine einsame Zeit sein, gerade in der Pandemie. Deshalb sollte man sich aktiv um Sozialkontakte bemühen.

Gesunde Work-Life-Balance – mit Wohlbefinden in den Winter

Der zweite Pandemiewinter bricht an, mit Risiken für die psychische Gesundheit. Wer oft ohne Kontakt zur Aussenwelt den ganzen Tag im Homeoffice sitzt, sollte jetzt Massnahmen ergreifen.

  1. Reden und verstanden werden

    Sprechen Sie mit Freunden bei der Arbeit über das, was Sie aktuell beschäftigt. Im Austausch fühlen wir uns nicht nur verstanden, wir entwickeln auch neue Strategien, um mit Herausforderungen umzugehen.

  2. Arbeitszeiten anpassen …

    Nutzen Sie die flexiblen Arbeitszeiten und schaffen Sie sich einen grösseren freien Zeitblock um die Tagesmitte. So fallen Ihre ausserberuflichen Tätigkeiten nicht komplett in die dunklen Randstunden.

  3. … und in Stein meisseln

    Tragen Sie den Feierabend im Kalender ein, um nicht bis in die Dunkelheit zu arbeiten. Räumen Sie im Homeoffice die Arbeitsfläche ab und den Laptop weg, um nicht immer wieder «nur kurz ein Mail zu schreiben».

  4. Sozialtermine planen

    Ungeplant treffen Sie bei nasskaltem Wetter draussen kaum noch jemanden an. Verabreden Sie sich in Ihrer Freizeit also aktiv mit Freunden oder telefonieren Sie regelmässig mit Menschen, die Ihnen wichtig sind.

  5. Persönlichere Kanäle wählen

    Mehr Stimme, mehr Angesicht zu Angesicht: Ersetzen Sie im Winter E-Mails durch Anrufe und Anrufe durch Videokonferenzen. Nutzen Sie die Videotechnologien auch, um im Homeoffice den informellen Kaffeepausenschwatz aufleben zu lassen.

  6. Ein Erfolgstagebuch führen

    Akzeptieren Sie auch mal eine negative Situation, ohne lange zu grübeln und wertschätzen Sie stattdessen Ihre Erfolge im Alltag. In dem Sie zum Beispiel ein Erfolgstagebuch führen, rücken Sie das Positive in den Vordergrund. 

  7. Saisonales Homeoffice

    Verringern Sie im Winter allenfalls den Homeoffice-Anteil etwas mehr zugunsten der Bürozeit. Je nachdem was Ihre Gründe fürs Homeoffice sind. Oder arbeiten Sie für ein paar Monate gemeinsam mit Ihrer Lieblingsnachbarin im Homeoffice.

  8. Etwas Neues anreissen

    Wagen Sie im Winter auch die eine oder andere Veränderung um geistig aktiv zu bleiben. Sie müssen ja nicht gleich kündigen. Vielleicht gibt es ein Projekt das Sie lancieren oder eine neue Aufgabe, die Sie übernehmen können. 

Marusca Klein | Psychologische Beratung: Die diplomierte psychologische Beraterin führt in Zürich eine eigene Praxis.