Was ist Tinnitus?

In der Sprache des Mediziners gesagt: eine auditive Wahrnehmung in Kopfnähe ohne äussere Quelle. Das kann alles sein: ein Klingeln, Rauschen, Zirpen, einseitig, beidseitig, im Kopf, im Ohr, vorne, hinten, kontinuierlich oder pulsierend. Mal ist es mehr, mal weniger. Manche Patienten schildern ein immer gleiches Ohrgeräusch, andere verschiedene und einige sogar so etwas wie eine Melodie. 

Wie viele Menschen sind in der Schweiz von Tinnitus betroffen?

Die Dunkelziffer ist hoch. Aktuelle Studien gehen davon aus, dass etwa jede fünfte Person Tinnitus hat. Die meisten Menschen leben einfach damit. Etwa 1 Prozent der Bevölkerung leidet aber unter den Ohrgeräuschen, so dass eine Abklärung und gegebenenfalls Therapie notwendig werden. 

Aktuelle Studien gehen davon aus, dass etwa jede fünfte Person Tinnitus hat.

In welchem Alter kommt Tinnitus vor?

Ohrgeräusche gibt es in allen Alterskategorien – sogar bei Kindern. Uns suchen jedoch vor allem Betroffene zwischen 60 und 70 Jahren auf. Das hängt zum einen damit zusammen, dass dann häufig das Gehör nachlässt. Zum anderen kommen in diesem Alter oft psychosoziale Aspekte dazu. 

Was verursacht die Ohrgeräusche?

Die Ursachen sind so verschieden wie die Symptome vielseitig. Beim sogenannten primären Tinnitus lässt sich die Ursache nicht genau ermitteln. Aber oft ist es eine kompensatorische Reaktion auf eine Hörverminderung. Anders gesagt: Wenn ich weniger gut höre, führt dies zu Veränderungen im Gehirn, die dann den Tinnitus entstehen lassen. Dem sogenannten sekundären Tinnitus können über 90 verschiedene Ursachen zugrunde liegen: von einer Innenohrerkrankung über Bluthochdruck bis zu neurologischen Ursachen.

Manchmal ahnt man selbst, woher der Tinnitus kommt – zum Beispiel nach dem Besuch eines lauten Rockkonzerts.

Ja, auch starker Lärm oder ein Knalltrauma können einen akuten Tinnitus auslösen; der verschwindet aber meist nach einiger Zeit von selbst. Da ist die Prognose gut.

Und wenn der Tinnitus bleibt?

Wenn die Ohrgeräusche länger als sechs Monate anhalten, reden wir von einem chronischen Tinnitus. Dann können Betroffene meist nicht mehr mit einer Heilung rechnen. Aber sie können lernen, damit zu leben. 

Was beschäftigt Betroffene, die erstmals zu Ihnen in die Sprechstunde kommen, am meisten?

Sie fürchten, dass der Tinnitus lauter werden könnte oder sie nicht mehr hören können. Oft bestehen auch Sorgen in Bezug auf die persönliche private oder berufliche Situation. Selten haben die Patienten Angst vor ernsthaften Erkrankungen als Ursache. Und dann kommen ganz konkrete Probleme wie zum Beispiel Konzentrationsprobleme oder Einschlafstörungen hinzu.

Welche Abklärungen nehmen Sie vor?

Neben einem Gespräch führen wir gründliche HNO-ärztliche Untersuchungen und einen Hörtest durch. Wenn es Begleitsymptome wie Kopfschmerzen oder Schwindel gibt, können ein MRI oder Laboruntersuchungen angebracht sein. Sind all diese Untersuchungen unauffällig, dann ist das für die Betroffenen erstmal schon sehr beruhigend. Fast genauso wichtig ist es, dass sie sich mit ihren Sorgen ernstgenommen fühlen.

Und dann geht es los mit der Therapie?

Liegt eine Hörminderung vor, verschreiben wir Hörgeräte, damit das Hirn wieder stimuliert wird und der Tinnitus in den Hintergrund rückt. Viele Betroffene sprechen von sich aus auch Schicksalsschläge, private Probleme oder Stress an. Denn sehr häufig spielen psychologische Faktoren bei der Entstehung und beim Umgang mit Tinnitus eine Rolle. Wichtig ist, dass kein Teufelskreis entsteht: Das wäre der Fall, wenn jedes Ohrgeräusch negative Gefühle, Abwehr und Stress auslöst – und die Betroffenen sich immer mehr darauf fokussieren. Wir helfen den Patienten, sich an den Tinnitus zu gewöhnen und mehr Gelassenheit zu entwickeln. 

Welche Strategien helfen dabei? 

Nicht kämpfen, nicht dramatisieren, die Situation akzeptieren: Wenn Betroffene das schaffen, dann haben sie gewonnen. Aber klar: Das ist eine grosse Herausforderung und leichter gesagt als getan. Wissenschaftliche Studien zeigen, dass die kognitive Verhaltenstherapie Tinnitus-Betroffenen am meisten hilft, wieder ins Gleichgewicht zu kommen. Grundsätzlich ermutigen wir unsere Patientinnen und Patienten jedoch, ihren Weg selbst zu finden. Achtsamkeits- und Entspannungsübungen können wirksam sein, aber auch Ausdauersport oder Bewegung an der frischen Luft. Manche versuchen es mit Hörtraining, andere mit speziellen Hörhilfen, die selbst Geräusche erzeugen und den Tinnitus übertönen. Was dem Einzelnen gut tut, ist sehr individuell.

Gibt es auch kleine Tricks für einen angenehmeren Alltag?

Ganz pragmatisch: Nicht unbedingt Stille suchen. Ich empfehle einen kleinen Zimmerbrunnen, der vor sich hinplätschert. Wer nachts nicht zur Ruhe kommt, kann Meeresrauschen oder Musik laufen lassen und darüber einschlafen. 

Kann man Tinnitus vorbeugen?

Nein. Niemand ist davor komplett gefeit. Aber natürlich ist es sinnvoll, sein Gehör zu schützen, wenn man beruflich Lärm ausgesetzt ist oder Konzerte besucht. Paradoxerweise kann man auch einen Tinnitus entwickeln, wenn man den ganzen Tag mit einem Gehörschutz herumläuft und sich total abschottet.

Und die biopsychosoziale Gesundheit spielt natürlich auch eine Rolle: Bewegung, Entspannung, genügend Schlaf, gute soziale Beziehungen… Geraten diese Faktoren aus der Balance, ist man anfälliger für Tinnitus. 

Nicht kämpfen, nicht dramatisieren, die Situation akzeptieren: Wenn Betroffene das schaffen, dann haben sie gewonnen. 
Dr.med. Lukas Anschütz ist Stv. Leiter der Poliklinik HNO des Berner Inselspitals und Leiter der dortigen interdisziplinären Tinnitus-Sprechstunde.

Besser leben mit Tinnitus: Tipps eines Betroffenen

Der Berner Coach Jürg Zimmermann kennt Tinnitus aus eigener Erfahrung und hat lange Jahre Selbsthilfegruppen geleitet. Hier gibt er uns Tipps für eine aktive, selbstfürsorgende Haltung. 

  1. Fokus weg vom Tinnitus

    Richten Sie Ihre Sinne auf Wohltuendes, Interessantes. Geniessen Sie Natur, Sport oder ein Hobby wie Tanzen oder Malen. Hauptsache: die Aufmerksamkeit vom Tinnitus weglenken.

  2. Austausch mit anderen Betroffenen

    Sie sind mit Ihrem Problem nicht allein. Vielleicht besuchen Sie mal eine Selbsthilfegruppe? Hier erhalten Sie gute Tipps und können weitergeben, was Ihnen hilft. 

  3. Kein Geheimnis draus machen

    Informieren Sie Ihre Mitmenschen. Angehörige oder Kolleginnen können so besser nachvollziehen, wie es Ihnen geht. Und akzeptieren, wenn Sie eine Pause brauchen. 

  4. Stress abbauen

    Oft entsteht Tinnitus durch eine dauernde Überlastung. Ob Sie zur Regeneration Meditation, Yoga oder Waldbaden ausprobieren: Etwas liegt Ihnen bestimmt. 

  5. Angenehme Töne wirken lassen

    Finden Sie heraus, welche Naturgeräusche oder Musik Sie im Alltag als beruhigend empfinden und lassen Sie diese im Hintergrund laufen.

Innovative Gehörtherapie

Gegen ein lästiges Summen im Ohr kann unter anderem auch eine Gehörtherapie helfen. Dabei kommen ein audiologisch-kognitives Training, spezielle Hörsysteme und Behandlungen mit sanften Strom-Impulsen zum Zug. 

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