Prof. Dr. med. Dr. sc. nat. Cathérine Gebhard ist Leitende Ärztin und Leiterin der Präventiven Kardiologie am Berner Inselspital.
Was ist Gendermedizin?
Gendermedizin untersucht die Unterschiede zwischen Männern und Frauen in Bezug auf Gesundheit und Krankheit. Dabei wird zwischen dem biologischen Geschlecht («sex») und dem soziokulturellen Geschlecht («gender») unterschieden.
«Sex» umfasst genetische, anatomische und hormonelle Unterschiede, während «gender» die Geschlechterrollen und -erwartungen beschreibt. Beide Faktoren prägen Krankheitsentstehung, Symptome, Diagnose, Behandlung und Prognose erheblich.
Warum brauchen wir Gendermedizin?
Das Geschlecht spielt eine grosse Rolle für unsere Gesundheit und wie wir im Gesundheitswesen behandelt werden.
Männer und Frauen
- sind unterschiedlich von Krankheiten betroffen
- verhalten sich anders in Sachen Gesundheit
- werden unterschiedlich wahrgenommen und behandelt.
Das führt zu Ungerechtigkeiten: Meist werden Frauen benachteiligt. Dies stellt auch ein aktueller Bericht des Bundesrats fest, der sich dabei auf Frauen bezieht, deren Geschlechtsidentität ihrem zugewiesenen Geburtsgeschlecht entspricht.
Gendermedizin ist ein multidisziplinärer Ansatz, der geschlechtsspezifische Unterschiede in allen Bereichen der Medizin untersucht und berücksichtigt. Dabei werden biologische, soziale und kulturelle Unterschiede zwischen den Geschlechtern in Forschung, Diagnose und Behandlung einbezogen.
KPT Talk mit Prof. Cathérine Gebhard
Im KPT Talk erzählt die Genderexpertin Prof. Cathérine Gebhard, was sie als Kardiologin im klinischen Alltag beobachtet, wie unterschiedlich ein Frauenherz im Vergleich zu einem Männerherz altert und was sie sich für die Zukunft im Bereich der Gendermedizin-Forschung wünscht.
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Warum sind Männer und Frauen unterschiedlich krank?
Warum sind Männer und Frauen von unterschiedlichen Krankheiten betroffen? Dabei spielen sowohl biologische als auch soziologische Faktoren eine Rolle. Hier einige Beispiele:
- Geschlechtsspezifische genetische Faktoren
- Anatomische Unterschiede
- Hormone beeinflussen viele Faktoren der Gesundheit
- Frauen haben eine höhere Lebenserwartung
- Es gibt Unterschiede bei der Funktion der Organe
- Unterschiedliche Belastungen durch Berufswelt und Familienarbeit
Welche Unterschiede stellt die Gendermedizin-Forschung in Bezug auf Krankheiten fest?
Geschlechtersensible Ansätze in der Medizin sind entscheidend, um eine optimale Gesundheitsversorgung für alle zu gewährleisten. Hier ein Streiflicht auf einzelne Krankheitsbilder und wie sie vom Geschlecht beeinflusst werden:
- Immunsystem: Frauen haben im Allgemeinen ein stärkeres Immunsystem als Männer, was bedeutet, dass sie schwächere Symptome bei Infektionen haben. Dafür neigen sie zu Überreaktionen, zum Beispiel auf Impfstoffe. Zudem betreffen Autoimmunerkrankungen wie Multiple Sklerose oder rheumatoide Arthritis vermehrt Frauen.
- Herz-Kreislauf-Erkrankungen: Männer haben ein höheres Risiko, in jüngeren Jahren an Herzinfarkten zu erkranken, während Frauen nach der Menopause ein erhöhtes Risiko haben.
- Schlaganfall: Frauen haben nach einem Schlaganfall eine höhere Sterblichkeitsrate und schlechtere Erholungsprognosen als Männer.
- Autismus und ADHS werden bei Mädchen oft später diagnostiziert, da sie durch Anpassungsstrategien ihre Symptome maskieren.
- Demenz wird bei Frauen später erkannt, weil sie sich Wörter besser merken können als Männer.
- Depressionen werden bei Männern oft später festgestellt, weil Depressionen überwiegend Frauen betreffen und bei Männern daher seltener vermutet werden.
- Osteoporose wird bei Männern später diagnostiziert, weil sie als typische Frauenkrankheit gilt.
- Parkinson betrifft mehr Männer und sie erkranken oft früher als Frauen. Wenn Frauen jedoch an Parkinson erkranken, sterben sie schneller daran.
Haben Frauen ein zu geringes Risikobewusstsein für Herz-Kreislauf-Erkrankungen?
«Ja, obwohl gerade nach den Wechseljahren das Risiko, einen Herzinfarkt zu erleiden, rasch ansteigt», sagt Prof. Cathérine Gebhard. Zudem warten Frauen bei einem Herzinfarkt länger, bis sie den Notarzt rufen – was die Behandlung verzögert. Die Kardiologin und Spezialistin für Gendermedizin rät, sich in Bezug auf das Herz über die eigenen Risikofaktoren zu informieren. «Überlegen Sie, welche Krankheiten in der Familie vorkommen», sagt sie. «Wenn Sie Medikamente wie beispielsweise Betablocker zur Blutdrucksenkung einnehmen, beobachten Sie genau, wie Sie darauf reagieren – und fragen Sie bei Unsicherheiten aktiv bei der Ärztin oder dem Arzt nach.»
Stichwort Herzinfarkt: Wie sind die Symptome bei Frauen?
Beim Herz und den Herzkranzgefässen gibt es anatomische Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Bei einem Herzinfarkt zeigen Frauen neben dem typischen Brustschmerz häufig vom Prototyp Mann abweichende «atypische» Symptome, etwa Erbrechen, Schwindel oder Bauchschmerzen, die die Diagnose erschweren. «Sie erhalten oft nicht die gleiche leitliniengerechte Therapie und werden seltener auf der Intensivstation behandelt», stellt Prof. Cathérine Gebhard fest.
Bei einem Herzinfarkt zeigen Frauen neben dem typischen Brustschmerz häufig vom Prototyp Mann abweichende «atypische» Symptome, etwa Erbrechen, Schwindel oder Bauchschmerzen.
Medikamente: Welche Unterschiede gibt es bei der Dosierung?
Frauen reagieren auf Medikamente anders als Männer. Bisher wurden die meisten Medikamente vor allem an Männern getestet. Der weibliche Körper unterscheidet sich aber in Bezug auf
- Körpergrösse und Gewicht
- Fett-, Wasser- und Muskelanteil
- hormonelle Aspekte
- Leber- und Nierenfunktion.
Diese Unterschiede beeinflussen die Aufnahme, Verteilung und Ausscheidung von Medikamenten.
Die Folgen:
- Frauen haben ein doppeltes Risiko für Nebenwirkungen
- Medikamente wie Betablocker können bei Frauen eher überdosiert werden
- Narkosemitteln wirken bei Frauen langsamer, so dass die Gefahr höher ist als bei Männern, dass sie während der Narkose das Bewusstsein erlangen.
So ist auch die Dosierung von Medikamenten ein wichtiges Thema der Gendermedizin-Forschung.
Warum die Medizin Frauen benachteiligt
Die Medizin ist traditionell männerdominiert, was zu einer systematischen Benachteiligung von Frauen in der medizinischen Forschung und Versorgung führt.
- Probanden in medizinischen Studien sind meist männlich.
- In Medikamentenstudien sind Frauen oft unterrepräsentiert, da der sich stark verändernde Hormonhaushalt auf Ergebnisse auswirken kann.
- Selbst Labortests basieren meist auf männlichen Ratten.
- Leitende Posten in Universitäten, Krankenhäusern und Praxen sind überwiegend von Männern besetzt.
- Informationen in Lehrbüchern und Therapieansätzen sind häufig auf Männer ausgerichtet.
Der Contergan-Skandal in den 1960er Jahren, bei dem das Beruhigungsmittel Contergan zu schweren Fehlbildungen bei Neugeborenen führte, und die Doppelbelastung durch Familie und Beruf tragen ebenfalls dazu bei, dass Frauen zurückhaltend bei der Teilnahme an Studien sind. Der Ansatz der Gendermedizin will erreichen, dass diese Datenlücke in Bezug auf Frauen geschlossen wird.
In Medikamentenstudien sind Frauen oft unterrepräsentiert.
Welche Rolle wird die Gendermedizin in Zukunft spielen?
Themen wie der Einfluss der Wechseljahre, chronische Schmerzerkrankungen oder die Endometriose wurden lange vernachlässigt. «Hier findet zum Glück ein Umdenken statt», sagt Cathérine Gebhard. «Dennoch sind wir von einer flächendeckenden Umsetzung der Gendermedizin in der Praxis noch weit entfernt. Hier braucht es mehr Aufklärung und Fortbildung.»
Kann ich als Patientin selbst etwas erreichen?
«Stehen Sie für Ihre Gesundheit ein!», so lautet der Appell von Cathérine Gebhard. Und sie hat noch einen Tipp am Rande: Geschlechtsspezifische Untersuchungen haben gezeigt, dass bei Frauen bereits 140 Minuten körperliche Aktivität pro Woche einen signifikanten gesundheitlichen Nutzen für das Herzkreislaufsystem bringen, bei Männern sind es 300 Minuten. «Frauen sind hier also im Vorteil – nutzen wir das!»
Ein Plus an Vorsorge
Pulse, die ambulante Zusatzversicherung der KPT, setzt den Fokus auf Früherkennung und Prävention von Gesundheitsrisiken. Sie profitieren von umfassenden Leistungen und Kostenbeteiligungen, die über die Grundversicherung hinausgehen: Vorsorgeuntersuchungen wie Herz-Kreislauf-Check-ups, Tests zur Krebserkennung, Kosten für Medikamente, Rettungen, Therapien und Sehhilfen.